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                  | Editorial
                     - Briefe an die LeserGesammelter
                     Senf zu aktuellen
                     Themen
 älter
                     - neuer
 | Leidkultur*
            , Martinszug, Karneval und der Umgang mit Geschichteman kann
            auch nehmen "Light-Kultur" oder, frei nach Stoiber : "a
            Kultur for di Leit"...
 
 11.
            November 2000 Liebe
            Leser, es ist
            schon merkwürdig, wie in den letzten Wochen
            über eine Kultur geschrieben und gestritten werden
            soll, die für alle anderen (außer uns
            "Deutschgeborenen") verbindlich sein soll. Natürlich
            hat F. Merz den Begriff nicht gepachtet, sondern von
            einem intelligenteren Mann abgeschrieben, aber es
            nützt ihm nichts: die deutsche "Leitkultur" klebt an
            ihm wie Schweröl und geht nicht mehr ab. Wer soll
            denn eine deutsche Leitkultur mit Inhalten füllen?
            Mathematiker? (arabische Zahlen), Theologen?
            (Judentum ist immer noch älter als Christentum). Die
            Touristikbranche? (hinter den Grenzen sind wir ja selber
            Ausländer, selbst wenn uns die vielen Deutschen im
            Ausland auf den Keks gehen, weil die sich benehmen wie
            Touristen...). Nein, das ist alles nur gequirlter
            Quark. Folgendes
            Beispiel möge - in rheinischer Gelassenheit - das
            Dilemma verdeutlichen: in Bonn-Beuel ist der Martinszug
            seit Urzeiten auf dem 9. November, das war er vermutlich
            schon, als der erste Weltkrieg an eben diesem Tage
            formaljuristisch beendet wurde. Vermutlich hatte man in
            der Reichspogromnacht auch einen Martinszug geplant - da
            weiß ich allerdings nichts Genaues. Immerhin
            erinnere ich mich aber an den Martinszug vom 9. November
            1989, als ich später mit dem Beueler Bötchen
            übersetzte und im Schiffsradio einen Bericht
            über die gefallenen Mauer hörte... Warum dies
            alles? Weil am
            10. November in der Zeitung zu lesen war, daß die
            Initiative, die jährlich am 9. November an den
            1938er Termin erinnert, sich darüber beklagte,
            daß die weihevolle Stimmung nicht so recht
            aufkommen wollte, denn einige tausend Kinder krähten
            vergnügt Martinslieder und hatten keinerlei
            Gespür für den Mantel der Geschichte und
            feierliches Gedenken. Was tun?
            Man könne doch den Martinszug verschieben, wurde
            überlegt. Das ist
            das Problem zwischen Geschichtsbewußtsein und
            Pragmatismus. Zur Trauer gehört nun mal das Leben.
            Selbst in New Orleans hat die Bläsergruppe mit Blues
            den Weg zum Grab begleitet und auf dem Rückweg wurde
            Dixieland gespielt. In Beuel ist es ganz klar, daß
            die Stadtsoldaten spielend den Spagat zwischen
            Martinszug, Sessionseröffnung am 11. und einem
            weiteren Martinszug am 13. schaffen. Natürlich ist
            es an Rosenmontag Brauch, am Beethovenhaus schnell mal
            "ta ta ta taaah!" zu spielen oder "Freude schöner
            Götterfunken". Solange keiner auf die Idee kommt, an
            der Synagoge "Ich hatt einen Kameraden" zu blasen, bleibt
            alles noch im erträglichen Bereich, Leidkultur eben.
            Da sind wir wieder bei der Leitkultur: Nicht nur das
            eigene Befinden zählt, sondern auch das der anderen.
            Also nicht nur Synagoge, sondern auch Martinszug, nicht
            nur Feierlichkeit, sondern auch Karneval. Nicht nur
            staatstragendes Bonn (perdu) sondern manchmal auch
            anarchisches Beuel. Alaaf! Martin
            Schlu  |